Oscar-Kolumne: Gegen den Trend

Platz war knapp. Frische Luft deshalb zuweilen auch. Dennoch war’s ein gutes Zeichen. Klingt komisch? Ist aber so …

Im „Hotel am Schlosspark“ stellte sich jüngst das Kandidaten-Quartett zur Wahl des Gothaer Oberbürgermeisters am 22. April. Es kamen weitaus mehr Interessierte als vermutet und Stühle im Tagungsraum unterzubringen waren. So blieben einige draußen und dennoch dabei. Dank offener Türen zum Flur, die im Nachhinein wie ein gutes Omen wirkten.

Denn die Debatte war offen. Geladen hatte dazu Otto Eismann namens des hiesigen BVMW-Zirkels – des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft. Axel Eger und Maik Schulz nahmen Amtsinhaber Knut Kreuch (SPD), Matthias Kaiser (CDU), Alexander Linß (parteilos, nominiert von Die Linke) und Dietrich Wohlfarth (Freie Wählergemeinschaft) in die Zange. Optisch wie rhetorisch – auch wenn dies akustisch zuweilen wegen fehlender Lautsprecher auf der Strecke blieb. Leisetreter waren der TA-Redaktionsleiter und der Ober-„Oscar“ jedenfalls nicht.

Die BVMW-„Wahlbausteine“ setzten die Themen: Haushalt, Arbeitsmarkt, Fachkräftemangel, Förderung von Familien und Bildung, Energie und Umwelt, Bürgernähe und Entwicklung der Infrastruktur.

Ganz klar: Die viere waren nicht die Musketiere. So sprach deshalb keiner für alle. Es stürzten sich aber auch nicht alle auf einen, war der anderer Ansicht.

Erfahrung in Politik und Verwaltung, sonore Stimme und selbstbewusstes Auftreten – das bestimmte, wie sich Kreuch präsentierte. Dietrich Wohlfarth trumpfte mit Kompetenz, konterte gelegentliche Unschärfen des Amtsinhabers. Matthias Kaiser wagte Unpopuläres anzusprechen wie etwa die Struktur „freiwilliger Leistungen“. Und Alexander Linß zeigte, dass gutes Polit-Entertainment kein Klamauk ist, kann man dem Akteur abnehmen, dass er zu seinen Überzeugungen steht.

So verschieden die Ansichten, so unterschiedlich die Art der Präsentation, so gegensätzlich zuweilen die Vorstellungen von Wunsch und Wirklichkeit im Gothaer Gemeinwesen: Auf mich wirkten alle vier glaubwürdig, couragiert und ehrgeizig genug, das Amt auszufüllen (hier geht es zum 80 min. langen Videomitschnitt!)

„Sagen, was man denkt. Tun, was man sagt. Und sein, was man tut.“ Ein hehrer Anspruch Alfred Herrhausen (1930 – 1989), des ermordeten Vorstandssprechers der Deutschen Bank, dem er sich nach eigenen Bekunden stellte.

Dieses Bonmot fiel mir ein, als ich über die Reihen des Publikums blickte, mich an diverse Debatten in Leserbriefen oder in Facebook-Foren erinnerte: Genau! Wie ist’s mit uns? Mit uns Wahlvolk?

Sagen wir, was wir denken? Tun wir das, was wir sagten? Und leben wir tatsächlich im Einklang mit dem, was wir tun oder auch unterlassen?

Meine Mai-Kolumne im „Oscar am Freitag“ nach der Wahl vor sechs Jahren endete:
„Uns allen täte Politik gut, die jeden angeht und nicht nur alle betrifft.“

Das würde ich heute nicht mehr so schreiben. Weil ich inzwischen präziser formuliere:
„Gute Politik ist, bei der jeder mitmacht, weil sie dann auch alle betrifft.“

Es scheint das Leichte, was so schwer zu schaffen ist: Dabei fängt es mit einem Sonntagspaziergang am 22. April an. Bewegung tut schließlich oft Not, aber auch gut. Außerdem bekommt keiner Kreuz-Schmerzen vom Ausfüllen des Wahlscheines. Wir geben auch nicht unsere Stimme ab, sondern erheben sie. Und schließlich erwirbt ein jeder von uns so das legitime Recht, die Auserkorenen dann an ihren Taten zu messen.

1994 absolvierten 66,0 % der Wahlberechtigten den ersten Urnengang. Zur Stichwahl rappelten sich 43,4 % auf.

2000 lag die Beteiligung nur noch bei 46,0 % im ersten Durchgang und bei 42,7 % im zweiten.

Beim Durchmarsch von Knut Kreuch vor sechs Jahren, als er auf Anhieb die absolute Mehrheit holte, erhoben gerade einmal 42,3 % der Gothaerinnen und Gothaer ihre Stimme.

Demnach bevölkerte die Residenzstadt eine schweigende Mehrheit!? Das will ich nicht glauben, denn sprachlos sind diese Vielen nicht. Auch die eingangs erwähnte Runde steht dem entgegen.

Gegen den Trend bin ich mit Begeisterung.
Gegen den Trend sind meist auch die Goth’schen.
Gibt es also eine respektable Wahlbeteiligung – gegen den Trend?

Ich setze darauf.

(Kolumne für “Oscar am Freitag”, Ausgabe Gotha, erschienen am 30. März 2012)

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