Weiterträumen für Schloss Ehrenstein

Foto: Anita Grasse

 

Kurz vor 12. Normalerweise wäre sie schon seit zehn Minuten weg, unterwegs zur Massage. Doch heute ist sie spät dran. Die letzten Handgriffe, da klopft es an der Tür. „Feuer!“, ruft jemand. Immer wieder: „Feuer!“ Erschrocken schlüpft sie in ihre Hausschuhe, nimmt ihren kleinen Chihuahua-Mischling auf den Arm und stürmt ins Treppenhaus. Da stürzt von oben, vom Dach, schon die Glut nach unten. Funken springen sie an. Sie deckt ihr „Hündchen“ ab, wie sie es liebevoll nennt, und rennt nach unten. Lieber nicht daran denken, was mit ihm geschehen wäre, wenn sie wie gewohnt, früher losgefahren wäre. Es sind nur ein paar Stufen. In einer Wohnung, zu der sie viele Treppen steigen müsste, könnte sie nicht leben. Zwei künstliche Hüftgelenke. Doch die paar Stufen reichen. „Als ich unten auf der Wiese ankam, stand oben schon alles in hellen Flammen“, erinnert sie sich und bricht in Tränen aus.

 

Die Tränen sind in den vergangenen Tagen ihr ständiger Begleiter geworden. Die Tränen und der Schock. Die Angst und die Verwirrung. Die Fassungslosigkeit. Ihren Namen nennen wir an dieser Stelle nicht. Zu groß ist das Interesse jetzt schon. Gut gemeint. Aber es lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Sie nicht und ihre Familie nicht. Nicht nur ihre Wohnung sei abgebrannt, sagt sie. Es fühle sich an, als sei ihr ganzes Leben verbrannt.

 

Ihr Bruder, der mit seiner Familie in der anderen Wohnung im hübschen weißen Renaissance-Schloss wohnte, war nicht zu Hause, als der Brand ausbrach. Von der Arbeit holten sie ihn weg. Doch er konnte nur noch zusehen, wie sein Lebenswerk zu Asche zerfiel. Vor 40 Jahren, kaum hatten die Russen das Schloss geräumt, hatten sich sechs Familien zusammengetan und angefangen, Wohnungen auszubauen. In Eigenleistung, auf eigene Kosten. Er war einer von ihnen. Er hat auf diesem Schloss seine Familie gegründet. Es ist sein Schloss. Gewesen. Ob er jemals wieder zurückkehrt, weiß er nicht. Es wird Jahre dauern, bis die dicken Wände, die jetzt vollgesogen sind mit  Löschwasser, trocken gelegt sind. Jahre, bis der Dachstuhl und die darunter liegenden Räume wieder aufgebaut sind. Jahre, bis klar wird, ob dort wieder Wohnungen entstehen werden. Jahre, die die Familien in anderen Wohnungen verbringen werden. Vielleicht ist der Schrecken bis dahin verblasst, vielleicht überwiegen die schönen Erinnerungen, und sie kehren wirklich zurück. Vielleicht aber schmerzt die Erinnerung an diese Nacht, in der sie alles verloren haben, auch so sehr, dass sie es nicht mehr ertragen könnten, dort zu leben.

 

Ein Weihnachten jedenfalls wird es in diesem Jahr für sie nicht geben. Alles, was sie retten konnten, hat Platz in einem einzigen Wäschekorb. Was nicht verbrannt ist, hat das Löschwasser ruiniert. Doch statt zu trauern, müssen sie sich um die Bürokratie kümmern, die der Verlust eines ganzen Lebens mit sich bringt. Versicherung, Ämter, Telefonanbieter. Gott sei Dank aber auch der Empfang von Hilfen, von Spenden. „Zum Glück haben wir unsere Enkelchen. Die bringen wenigstens ein bisschen Licht in die Tage“, sagt er leise und kämpft gegen die Tränen.

 

Alles, was von den Schätzen geblieben ist, die Schloss Ehrenstein in den beiden abgebrannten Flügeln barg, sind rußgeschwärzte Balken, die gespenstisch Löcher in den Winterhimmel stochern. Und ein paar Puppen, die mit schmutzigen Gliedern und ramponierten Gesichtern im Archiv auf dem Boden aufgereiht sind. Das einzige, was von der großen historischen Puppensammlung noch übrig ist. Das einzige, was von einem großen Traum noch übrig ist. Hoffen wir, dass sie alle die Kraft finden, ihn noch mal zu träumen.

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