Was Großmutter noch wusste …

Meine Großmutter hatte ein kleines Oktavheft. Das steckte in der Küche hinterm Brotkasten, meist unbeachtet und trotzdem behütet wie der Augapfel. Nur zu besonderen Anlässen kam es zum Einsatz. Dann wischte sich Oma Gisela die Hände an der Kittelschürtze ab, holte umständlich die Lesebrille aus dem abgegriffenen Etui, behauchte die Gläser und putzte sie hernach mit jener Schürze, die sie tagaus, tagein trug. Besseren Durchblick versprach diese Handlung nicht, aber es war eben eher ein Ritual. Sie schob sich die Brille auf die Nase; nicht ganz so, wie es ihre Optikerin hätte sehen wollen. Das Gestell thronte weit vorn auf dieser imposanten Erscheinung in ihrem Gesicht. Dann schnappte sie sich das Büchlein und ein Kissen, nahm auf der Ofenbank Platz und schlug mit andächtiger Miene das Büchlein auf.

Auf den schon leicht vergilbten Seiten hatte mit einer Schrift, die ich als Kind nicht entziffern konnte, Giselas Großmutter und später deren Tochter das eine oder andere Rezept aufgeschrieben.

Auf den Seiten des Büchleins im handlichen Format vereinten sich zwei Generationen Küchen–Tradition und mindestens auch zwei Koch- und Backwelten.

Nicht, dass Gisela die Speisen nicht ohne Ahnen-Anleitung hätte kochen können! Aber es gehörte eben dazu, in dem Kompendium der Genüsse zu blättern, dabei „Ah!“ und „Oh!“ zu murmeln. Wenn diese eher weihevolle Lektüre eine angemessene Weile gewährt hatte, sagte Oma Gisela „So, dann wollen wir mal!“, klappte das Buch zu, räumte alles pedantisch auf – das Buch hinter den Brotkasten, das Kissen auf die Ottomane, die Brille ins Etui.

Dann türmte sie diverse Zutaten auf dem gewaltigen Küchentisch auf und Schüsseln und Kasserollen, legte allerlei Werkzeuge dazu wie Teigrollen, Löffel, Gabeln etc. – immer in Abhängigkeit davon, ob das Entstehende dann vom Groß-Maul des Backofens verschlungen wurde oder auf den vor Hitze knisternden Herdplatte zugerichtet wurde. Dafür musste Oma Gisela vorher ordentlich einheizen, sie hatte einen von den alten Küchenherden, der mit Holz und Kohle gefüttert werden musste. Nix da mit Regler drehen und los geht’s! Alles wollte wohl bedacht sein …

Nun ja; war das Werk vollbracht und brutzelte, schmurgelte vor sich hin oder buk im Dunkel des Herdes, dann durchströmten das Neubauern-Haus in der Magdeburger Börde die wunderbarsten Düfte, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief.

Das Rezeptbuch von Oma Gisela gibt es nicht mehr. Wer weiß, wer es sich unter den Nagel gerissen, welcher aufräumende Nachlassverwalter aus der weit verzweigten Familienbande den unschätzbaren Wert dieser ganz speziellen Handschriftensammlung zu schätzen wusste.

Ich hätte es jedenfalls auch sehr gern besessen, habe ich doch heute nur noch Erinnerungen an die Mohnsuppe oder den leckeren Apfelmus-Kuchen, die „Schnapstorte“ nach Frau Butze, den Schoten- oder Kirsch-Klump …

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