Von Windditschern, fliegender Kohle und Heiden zu Ostern

Mit der Heide nach der Kohle schlagen, die auf dem Knüppel thront. DIE Gaudi für rund 300 Schlotheimer. Einmal im Jahr streifen sie stundenlang durch Feld und Flur bei ihrer rustikalen Golf-Variante. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist dieses „Kohlenschlagen“ ein österlicher Brauch in Nordthüringen, insbesondere um Nordhausen, Sondershausen, Schlotheim und im Helbetal.

Eine sehr spezielle Tradition allemal: Man frönt ihr heutzutage ausgerecht am Karfreitag, der ja eigentlich ein „stiller“ Feiertag ist. Doch der Genuss speziellen „Osterwassers“ bei der Tour über den Naturparcour lässt Stimmung und Lautstärke der Alternativ-Golfer stetig steigen.

Weshalb urplötzlich um 1880 gestandene Mannsleut‘ auf diese kuriose Idee kamen, ließ sich bisher nicht seriös klären. Das bekümmert aber Christian Erdenberger nicht. Er hat in dritter Generation den Hut dafür auf, dass er und seine Freunde am 30. März nun schon zum 74. Mal in Folge die Kohlen schlagen.

So heißt es im Rustikalgolfer-Deutsch, wird die hölzerne Kugel – eben jene „Kohle“ – mit der „Heide“, dem Schläger, über Feld und Flur gedroschen. Damit es dabei die Herrschaften nicht mit dem Kreuz kriegen, hat die Kugel einen Stiel. So kann man sie auf dem rund 1 m langen „Knüppel“ auflegen, der zuvor in den Boden gerammt wurde.

Weil die Range kein gepflegtes Green ist, ist die „Kohle“ nicht schwarz noch weiß. Ostern ist – wie bekannt – ein wanderndes Feiertagswochenende, wird immer nach dem ersten Frühlingsvollmond gefeiert. „Wir haben deshalb auch schon einmal im Tiefschnee gespielt“, erinnert sich Christian Erdenberger. Die „Kohle“ ist deshalb möglichst neonfarben. Die Regeln fordern schließlich, die Kugel von dort weiter zu spielen, wo ihre Luftfahrt endete – ob in einer Pfütze, mitten auf der Straße oder in einem Bachlauf. Auch Christian war schon einmal der Glückliche, der dann in einem Graben als Wassertreter und Wellenmacher die ganze Mannschaft erheitern durfte.

Kohlenschlagen ist also wahrlich ein grenzenloses Vergnügen. Es endet deshalb auch nicht vor privaten Grundstücken. „Das interessierte nach dem Krieg keinen und wird als Gewohnheitsrecht auch heutzutage hingenommen“, erzählt Erdenberger. Viele öffnen deshalb den Kohlenschlägern Tür und Tor wie z. B. Jürgen Schäfer, der Drucker bei Erdenberger ist. Und dennoch krachte einst ein besonders querer Querschläger in sein Gewächshaus. Fair, wie Sportsmänner sind, gab es im Tausch die „Kohle“ fürs Spiel für Kohle für die zerschmetterte Scheibe.

Die 1947er Kohlenschläger. Foto: privat

Christian Erdenbergers Großvater Hans, Jahrgang 1899 und heimatgeschichtlich interessiert wie bewandert, hatte 1945 das Kohlenschlagen wiederaufleben lassen. Gerade dem Schrecken des Krieges entkommen, schien diese Tradition bestens geeignet, um sich und das Leben zu feiern. Wohl auch deshalb zog man im feinen Zwirn seine Kreise; mit Hut und Stock. Heute dominieren hingegen Gummistiefel („…die sind unabdingbar“) und Stücke der Engelbert-Strauss-Kollektion die Mode. Auf diese strapazierfähigen und wind- wie wasserdichten (Arbeits-)Klamotten setzt man aus rein praktischen Gründen.

Bis heute ist es auch Usus, dass Kind und Kegel beim Parforceritt mit der hölzernen Kugel dabei sind: So wird von klein auf der Nachwuchs mit dem Kohlenschläger-Virus infiziert. Frauen indes sind nur geduldet – dürfen nicht mitspielen, nur zuschauen.

Bis zu seinem Tode 1966 hatte Hans Erdenberger nicht nur seine „Heide“ fest in der Hand, sondern auch das ganze Drumherum. Ihm stand seit 1947 Herbert Lang zur Seite – heute hochbetagt und letzter lebender Zeitzeuge jenes Neuanfangs nach dem Kriege.

Lang war es auch, der mit Hans‘ Sohn Manfred das „Heilige Buch“ begann – die Chronik der Truppe. Drei Bände sind es schon geworden. Den aktuellen pflegt akribisch und mit Hingabe nun Enkel Christian. Dazu gehört auch, dass er jeweilige Endergebnis dokumentiert – allerdings mit einem Jahr Abstand. Deshalb, weil am Abend des wunderlichen Wald- und Wiesenwanderns alle Mann – inklusive Cheforganisator –  meist vom Geist aus diversen Flaschen beseelt sind. Unter solchen Vorzeichen fabrizierte Auflistungen hatten dereinst dem wieder einigermaßen nüchternen wie kritischen Blick der Mitspieler nicht standgehalten, weshalb Christian sich schwor, mit Abstand und abstinent an die Sache zu gehen.

Es gibt eben auch Todesmutige in Schlotheim. Foto: privat

Mit Erfolg, denn diese Zusammenstellungen aus den Teilnehmerlisten, zahlreichen Bildern und Ergebnisübersichten erlauben im Grunde eine Reise durch 75 Jahre Zeit- und Geschichte der Akteure. So mancher dürfte dann mit Wehmut auf die schwarz-weißen wie ORWO-Colorbilder schauen: „Mein Gott, was war’n wir jung…“ Und schön.

Christian, nun haarscharf ebenfalls hinter der 50er-Lebensjahrelinie gelandet, hatte in jungen Jahren noch ein zweites Faible – das Handballspiel. Schlotheim ist dafür ja bekannt. Seit 1947 wird dieser schnelle Mannschaftssport betrieben. Und auch hier war es der Rustikalgolfer Herbert Lang, der den Neustart initiierte. Und weil die Hatz auf dem Parkett den Teamgeist formt, gehören den ehrenwerten Erdenberger-Kohlenschlägern von Beginn an viele einstige Sportfreunde an.

Die meisten sind nach dem wendischen Herbst 1989 ausgeflogen, kommen aber alle Jahre wieder zu Ostern nach Schlotheim. Im einem Jahr zählt die schlagfertige Vereinigung deshalb 18 Köpfe, im anderen 45. „Das ist so wie beim Klassentreffen“, sagt Christian. Aber alle sind immer mit großer Begeisterung und Ehrgeiz dabei – schließlich wird seit 1966 der „Erdenberger-Wanderpokal“ vergeben, der nach dem Tode von Hans, dem Wiederbegründer, gestiftet wurde.

Und so wird man nun am 30. März morgens, gegen 8 Uhr, wieder aufbrechen. Mittags wird ausgiebig gerastet und sich gestärkt. Danach geht es zum Endspurt. Vier, fünf Kilometer lang sind die Touren, die gelaufen werden. Damit möglichst oft geschlagen wird, sind sechs- oder siebenköpfige Teams in der Spur, „meist seit Jahren die gleichen Leute“.

So wie es den Clan der Erdenberger gibt, finden sich in Schlotheim weitere rund zwei Dutzend anderer Mannschaften. Die haben alle ihre eigenen Routen und Bräuche. Die einen arbeiten bei Sponeta. Die anderen sind von der Freiwilligen Feuerwehr. Jürgen Schäfer, der Angestellte der Druckerei von Christian Erdenberger, läuft mit seinen „Aquarianern“ auf.

Während des Tages kreuzen sich zwar auch schon einmal die Wege der wagemutigen Wanderer, „aber da passiert untereinander groß nicht viel“. Das heißt aber zumindest, dass sich die Spieler gern gegenseitig beim Schlagen aus der Fasson bringen wollen.

Kohlenschlagen an sich ist schon ein Kuriosum zum Karfreitag. So ist‘s auch nicht verwunderlich, dass selbst die Regeln ungewöhnlich sind. Es obsiegt nämlich, wer die wenigsten Punkte macht.

Die werden ausschließlich zur Strafe vergeben: Wer seine „Kohle“ keine 20 m weit befördert, fängt sich 5 Punkte für einen solchen „Ditsch“ ein. Wird der „Knüppel“ umgehauen und die „Kohle“ hebt erst gar nicht ab, kommen 10 Punkte für diesen „Knüppelditsch“ aufs Konto. Und 15 Punkte kassiert derjenige, der einen „Windditsch“ fabriziert: Dabei bleiben „Kohle“ UND „Knüppel“ unberührt. Dafür dreht sich beim Luftlochschlagen der Unglückliche wie ein Brummkreisel…

Natürlich muss jeder missglückte Schlag wiederholt werden. Dies jedoch höchstens zweimal. Weitere Strafpunkte gibt es für verlorene „Kohlen“ und zerdroschene „Heiden“.

Auch Lucas (28) und Fabian (23) kennen diese Regeln. Christians Söhne sind schon seit vielen Jahren mit dabei. Garant dafür, dass auch in kommenden Jahrzehnten mit der „Heide“ nach der „Kohle“ geschlagen wird, die auf dem „Knüppel“ thront.

(„Besser leben“, Ausgabe 03/März 2018)

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