„Oscar“-Kolumne: Der Wulff und die 185 Geiseln

Stefan Winterbauer zog unlängst auf meedia.de eine „verkorkste Medien-Bilanz des neuen Bundespräsidenten“ Christian Wulff: Hängepartie bei der Wahl, unglücklicher Auftritt zur Fußball-WM, Mallorca-Urlaub in der Villa eines Industrie-Spezis, dubiose Rolle beim Sarrazin-Deal, Ermittlung wegen illegaler Wahlkampfhilfe. Zuletzt eine „Stern“-Umfrage: Nur 44 % des Volkes seien „zufrieden“ mit seiner Amtsführung.

Eine deprimierende 86-Tage-Bilanz, nicht? Dabei deckte Winterbauer noch den Mantel des Schweigens übers „Desaster von Gotha“.

Haben Sie’s mitbekommen? Christian Wulff war hier. Für eine Premiere. Seit dem 12. September 1949, als Theodor Heuss zur ersten Nr. 1 dieses Landes gewählt wurde, empfängt das deutsche Staatsoberhaupt das Diplomatische Corps zum Antrittsbesuch stets an seinem Dienstsitz. Wulff tat’s nicht, sondern lud auf Schloss Friedenstein. Welch symbolträchtiger Ort! 185 Exzellenzen samt Entourage kamen.

Höchste Sicherheitsstufe herrschte. Auffällig unauffällig gekleidete Zivilisten lungerten nicht nur in Gothas Schlosspark herum. Sie trugen zwar keine Wolpryla*-Strickjacken oder Jumo**-Blousons oder die kessen braunen Handgelenktäschchen. Trotzdem schienen sie einer Parodie über Mielkes Schneller Eingreiftruppe entsprungen. Weiträumig verspanntes weiß-rotes Flatterband hielt zudem erfolgreich Al Kaida-Aktivisten fern.

Eine Handvoll NPD-Akteure nicht. Die liefen ungestört neben der Wasserkunst auf, was sie hernach auf diversen Online-Portalen feierten.

Zwar lagen weder Scharfschützen auf den Dächern, noch standen Wasserwerfer-Batterien oder Hundertschaften schildbewehrter Sicherheitsbeamter in den Seitenstraßen Schlagstock bei Fuß. Trotzdem beeindruckte das Machtmonopol des Staates die Gothaer: Keine drei Dutzend Zuschauer fanden sich vorm Schloss ein. Sie kamen zudem nur auf Rufweite heran. Wulff und seine Teilzeit-Bodyguards – Gothas OB Knut Kreuch und Gothas Landrat Konrad Gießmann – wagten zwar einen kurzen Ausbruch aus dem Hochsicherheits-Begängnis, weil sich die Bus-Karawane der Exzellenzen verspätete. Aber der protokollarische „Cordon sanitaire“ wehrte anschließend wieder Volk und öffentliche Aufmerksamkeit erfolgreich ab.

Die regionalen Medien berichteten dennoch, im nachrichtlichem Nahkampf erprobt. Außerhalb Thüringens interessierte das aber keine Sau, weder überregionale Zeitungen, noch ARD oder ZDF.

Wer wegen des Wulff-Besuchs auf www.tagesschau.de nach „Gotha“ suchte, landete bei einem gelöschten Ekel-Eklat-Video von 2006 über Tonnen von Gammelfleisch. Stichprobe ZDF. Fundstück hier: „Die Rentner-Docs“ – ein Bericht aus dem Januar 2010 über Gothaer Allgemeinmediziner, die wegen des Ärztemangels aus dem Ruhestand geholt wurden.

Dieses mediale Desinteresse fuhr mir tief ins lokalpatriotische Mark und Bein. Weil ich als Mundwerker nicht nur offline und für Print-Perlen wie den „Oscar“ arbeite, ging ich online. Fischte in sozialen Netzwerken nach Aufmerksamkeit, Zuspruch und Austausch. Kollegen trösteten, es habe sie doch eh nur um einen Händeschüttel-Termin gehandelt. Quasi um eine Nachfolge-Veranstaltung Honeckerscher Staatsjagden.

Zunächst irritierte mich das. Jetzt aber liegt der Beleg dafür vor. Geliefert von TLZ-Chefredakteur Hans Hoffmeister. Er wagte am vorigen Samstag einen investigativen Blick durchs „Schüsselloch“. Wulff, auf die offensichtlichen Gängeleien seines präsidialen Apparates beim Thüringen-Besuch angesprochen, offenbarte sich demnach: „Jetzt fühle ich mich wie der Potentat eines sozialistischen Staates.“

PEKING, 15. September, add***. Kurz vor 11 Uhr Ortszeit gab es heute im Peking einen Anschlag. Augenzeugen berichteten über Verletzte. Das dementierte die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua. Chinas Außenminister Yang Jiechi erklärte zudem: „Wenn in Peking ein Sack Reis umfällt, ist das eine innere Angelegenheit.“

* – eine Kunstfaser aus DDR-Produktion mit „wollähnlichen Eigenschaften“, die in den Sechzigern einen Strickboom in der DDR auslöste.
** – Jumo (Jugendmode) war in der DDR eine Ladenkette der staatlichen Handelsorganisation (kurz: HO), die ein spezielles Bekleidungssortiment für Jugendliche anbot.
***add – Aschenbrenners Depeschen-Dienst

(leicht veränderte Kolumne, geschrieben für den September-„Oscar am Freitag“, Ausgabe Gotha, der heute erschienen ist)

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