Nacht-Sicht

Im Westen verkrümelt sich die Sonne. Verlegt sich aufs Wegducken. Die Nacht frisst sich, von Osten kommend, durch Gothas Straßen. Macht, dass alles lange Schatten wirft. Selbst die zu kurz Geratenen kommen sich deshalb mal riesig vor. Im samtenen Schwarz verschwindet das Unansehnliche ebenso wie das Blütenreine, das Sehenswerte. Nacht ist wie Nebel. Macht alles gleich, indifferent, unkenntlich, unscharf, undefinierbar.

Nacht bringt Ruhe. Macht einsamer. Sorgt für Stille. Ist ein weiches Kissen zum Kuscheln. Deckt das hektische Tages-Gehabe ab. Verbannt es in erleuchtete Räume. Macht aus Tagfaltern Nachtschwärmer. Oder Schläfer. Ganz so, wie es beliebt. Ganz so, wie die Natur befiehlt.

Ein Klick nur. Dann ergießt sich genüsslich das warme, weiche Licht über den Schreibtisch. Schnitzt aus dem Dunkel eine Insel des Da-Seins. Einen Ort unwirklich wirkenden Lebens. Tasten klackern. Buchstaben formen sich zu Worten. Worte fließen in Sätze. Schreibtischlern in akkurat getrennten Sphären von Licht und Dunkel. Von geschäftigem Tun und entspannten Lassen.

Nachts, wenn alles schläft. Dann küsst mich die Muse. Manchmal. Beschwingt vom roten Wein. Enthemmt davon. Liebkost mich, schaufelt mir Träume in den Kopf, die fingerflink über die Tasten sich in virtuelle Welten vorwagen. Nur ein Klick und Phantasien werden öffentlich. Manchmal ist’s lustvoll, manchmal eher schmerzhaft – so seine Gedanken herauslassen. Anderen zu offenbaren. So ohne Schutz. Schwarz auf weiß. Zumindest scheint es so. Im Nirwana des weltweiten Webs allen offen gelegt. Jedem, der sie findet. Die Zeilen, die einem so entfleuchen. Rausrutschen. Kalkuliert wiederum, weil wohl wissend, dass niemand davon erführe, wenn nicht final aufs Feld “Publizieren” geklickt würde.

Aber man tut es. Für sich selbst. Damit die anderen wissen: Da ist einer. Auch noch SO einer. Wer auch immer “die anderen” sein mögen. Selbstdarstellung als rituelle Kommunikation. Kommunikation als Ritus – zuweilen. Ich schreibe, also bin ich. Oder ich scheine zu sein. Trompete lautlos meine Botschaften hinaus. Völker, lest die Signale; auf zum letzten Gefecht.

Nachts sind alle Tasten grau. Zehn-Finger-System oder blind gehämmert – das geht nicht, das kann ich nicht. Erleuchte mich und mein Tun! Die Lampe schafft’s – so ganz ohne göttlichen Impetus.

Die Glocken schlagen, die elfte Stunde des Abends ist vorbei. Pink Floyd wütet sich lautstark durch die “Echoes” – weckt Erinnerungen an frühere Tage. An simplere Sichten, klarere Konturen. Alter schützt vor Weisheit nicht. Nicht aber auch vor Weichheit, Unschärfe. Im Denken und Tun.

Vor dem Einknicken. Vor Feigheit und Konformität. Vor dem “Ja”-Sagen, wenn man doch viel dringender ein “Nein” heraus schreien wollt’.

Irgendwo im Westen hat sich die Sonne verkrümelt. Verlegte sich aufs Wegducken. Die Nacht fraß sich durch Gothas Straßen. Machte lange Schatten, dass selbst die zu kurz Geratenen sich deshalb mal riesig vorkam …

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