Das Wort zum MUTwoch (58): Sakrileg

Ich kam mir beschissen vor.
Ich wollte rumpelstilzen. Für den Fall, mich beobachtet jemand, der mich kennt.
Ich wollte im Erdboden versinken. Vor Scham.

Weil ich Bücher entsorgte. Wegschmiss.
Nicht eines, zwei oder drei. Nein, ich warf sie zu Dutzenden, kilo- und bananenkistenweise Papiertonnen ins hämisch breit grinsende Maul.

Verschiedenen. Um der Gefahr des Enttarnt-Werdens, der Blamage, des Skandals zu entgehen: „Die einen ließen Bücher verbrennen. Und jetzt schmeißt selbst der Aschenbrenner welche weg …“

Die abendländische Kultur geht nicht den Bach runter. Sie wird recycelt. Und wir wischen uns dann den Arsch damit.

Gut. Es waren auch Schwarten darunter, die ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ein-,  zweimal in der Hand hielt. Mit Frakturschrift gefüllt, Vorkriegsware, gefunden auf großelterlichen Dachböden. Als ich anfing, zu verstehen, dass Weltanschauung was mit Welt anschauen zu tun hatte. Auch, wenn ich damals nur knapp die Hälfte vom halben Globus hätte begutachten können. Da aller guten Dinge aber angeblich drei sind, war dieses finale Anfassen und Für-immer-loslassen dann wohl doch gerechtfertigt.

Es gehörten jedoch auch Bücher dazu, deren Seiten ich ungezählt oft umblätterte. Weil deren Buchstaben, die zu Worten und diese Worte dann zu Sätzen wurden, mich auf den Schwingen meiner Fantasie in mein „Nimmerland“ entführten.

Bücher waren für mich und in der Da Da eR Pforten zu geheimen Leben: Las ich, schmuggelte ich mich zwischen die Zeilen. War literarische Konterbande. Ich lebte, litt, liebte mit den Protagonisten. Hisste begeistert die Piratenflagge und gehörte dazu, als „Die Abenteuer des Jan Kuna, genannt Marten“ passierten. Für den „Sternentagebücher“-Piloten Ion Tychy machte ich den Smutje (lange bevor er „Held“ einer seltsamen ZDF-Serie wurde) und gab den Jacques Paganel für „Die Kinder des Kapitän Grant“.

Bücher kosteten nicht die Welt im Arbeiter- und Bauernstaat. Aber sie machten den Weg frei dahin. Nicht alle bekamen alles Verlegte. Für manch Verlegenheit Erzeugendes wie den Pseudo-Porno „King Ping Meh“ musste man der Verkäuferin lieb Kind sein.

Den einen waren die Bücher willkommene Dekoration in der „Karat„, der wohl begehrtesten Anbauwand aus sozialistischer Großbetriebs-Möbelschreinerei.

Für solche wie mich hingegen, aufgewachsen in Bernsdorf (Oberlausitz), im anderen „Tal der Ahnungslosen„, das nicht die Elbe, sondern die Schwarzen Elster durchfloss, waren sie lesens- und (über-)lebenswert.

Über zahllose Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Zeugnisausgaben etc. begleitete mich daher der Bücherscheck. Mit glühenden Ohren nahm ich ihn entgegen, um ihn möglichst bald in der Buchhandlung am Zetkin-Park Frau Hanschke in die Hand zu drücken. Was folgte, war ein Drama: So wenig Gutschein für so viel Buchstaben-Gier …

Selbst nachdem dem weltweit wirklich wunderlich wirkenden, selbst ernannten „Leseland Nr. 1“ der anti-faschistische, anti-pornografische, anti-pseudointellektuelle und sonstige Wall abhanden kam, hamsterte ich Bücher. Erfolgreicher denn je. Denn wie „Der Mann vom Anti“ von Ekkehard Redlin beschrieb, gaben gar viele die Folianten gegen Valuta.

In Leipzig, in diversen „Anti“-Quariaten, kaufte ich PKW-hängerweise Gedrucktes für eine halbe „blaue Fliese“. 50 DM gab ich – und sechs Zentner Buch waren mein.

Sechs Umzüge überlebten die erbeuteten Druckwerke. Den siebten nun nicht.

Irgendwann hörte ich auf, zwischen den Buchdeckeln nach Signaturen, Postkarten, Zettelchen oder anderen Erinnerungen zu suchen: Ich warf die Begleiter meiner Kindheit, Jugend und des Erwachsenwerdens scheinbar emotionslos in den Schlund des Zeitgeistes. Aus den Augen waren sie damit. Nicht aber aus dem Sinn.

Denn zu klein das neue Heim. Zu viel des Gedruckten. Ich hatte daher aber- und abermals zuvor sortiert. „Hannah Höch“ und Andreas Zink sei Dank werden wenigstens zwei von zehn Büchern ein neues Daheim finden.

Aber eine Wunde, die schlug dieses Entschlacken. Denn es war die Entsorgung der letzten handfesten, aus Bücherwänden herausnehmbaren Erinnerungen an den Klugscheißer, der vor dem 3. Oktober 1990 auch schon ein Leben gelebt hatte.

Habt Mut und genießt den Mittwoch :-)!

Seit 29. Februar 2012 gibt es “Das Wort zum MUTwoch” in der

Außerdem erscheint seit Dezember 2002 im “Oscar am Freitag” in der Lokalausgabe Gotha am jeweils letzten Freitag im Monat meine gedruckte Kolumne – “Der Aschenbrenner hat das Wort”; die hier auch anschließend veröffentlicht wird.

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