Das Wort zum MUTwoch (100): Jegliches hat seine Zeit

„Jegliches hat seine Zeit
Steine sammeln, Steine zerstreuen
Bäume pflanzen, Bäume abhauen
leben und sterben und Streit.“

Dieser Tage kamen mir diese Verse in den Sinn. Sie sind 37 Jahre alt. Geschrieben, gesungen von den Puhdys. Dies’ Lied kenne ich aus dem Kino. Es war die Titelmelodie für „Die Legende von Paul und Paula“.

Ich hatte die Zeilen im Kopf, als ich den zu verlieren drohte. Ein einziger Anruf warf zuvor meine fein ausgeklügelte Arbeitsplanung über den Haufen. Derart, dass vor meinem geistigen Auge sich das perfekte Chaos  abzeichnete. Ich war mir nämlich sicher, dass davon nun auch die folgenden Tage betroffen sein würden.

Ich gestehe, einen Anflug von Panik verspürt zu haben. Und von völliger Frustration. Weil so etwas immer wieder passiert.

Dabei hatte ich doch 2014 zum Jahr ausgerufen, in dem ich Gelassenheit erlernen wollte?!? Wo – verdammt! – hatte sich die wieder verkrümelt?

Ein paar (alt-)kluge Ratschläge schwirrten mir durch den Kopf. Bis zehn zählen, tief durchatmen, an was Schönes denken …

Alles Blödsinn! Nix half. Mein Magensäure-Spiegel erreichte kurzfristig das Niveau biblischer Sintfluten. Das Blut rauschte in den Ohren. Und ich war stinkesauer.

Vor allem aber auf mich.

Weil ich wieder nicht „nein“ sagen konnte. Weil ich wieder im vorauseilenden Dienstleister-Wahn den Auftrag des Anrufers als „besonders dringend“ einstufte und alles andere fallen ließ. Weil ich den Arsch nicht in der Hose hatte, zu sagen, dass ich mich bald, morgen, bis Mitte nächster Woche … um das Anliegen kümmern werde. Weil auch anderen Leuten meine Loyalität gehört und sie deshalb ebenso das Recht darauf haben, dass ihre Wünsche bei mir Gehör finden und gründliche Bearbeitung genießen.

„Jegliches hat seine Zeit …“ In der Tat. So ist das.

Und es sind nur selten tatsächlich die anderen, die uns unsere „Zeit“ stehlen. WIR sind es selbst, die das zulassen. Wir, die wir uns hetzen, drängeln lassen.

Vergegenwärtigt man sich das, dann ist das schon die halbe Miete, der halbe Weg zum Paradies, das uns „Gelassenheit“ verheißt.

Haben wir also den Mut – und nicht nur am Mittwoch – Maß zu halten.
Auch mit der Zeit.

P. S. Übrigens – um mich wieder einzukriegen, habe ich eine meiner größten Schwächen genutzt: Meine Neugier. Mir kam nämlich die Zeile „Jegliches hat seine Zeit“ bekannt vor – jenseits der Kultromanze um Paul und Paula.

Und in der Tat. Was ich fand, erstaunte mich. Sie geht aufs Alte Testament zurück, wird dem Prediger Salomo zugeschrieben:

„Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
geboren werden hat seine Zeit,
sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit,
ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit,
heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit,
bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit,
lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit,
tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit,
Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit,
aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit,
verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit,
wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit,
zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit,
reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit,
hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit,
Friede hat seine Zeit.“

Wer hätte das gedacht?
Wer hätte gedacht, dass der Komponist Peter Gotthardt und der Dichter Ulrich Plenzdorf, die beide den Titelsong für „Paul und Paula“ schrieben, 1977 die Bibel zitierten? Und keinem Zensor fiel das auf.

Jegliches hat eben seine Zeit.

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