Das Wort zum MUTwoch (143): Aschenputtel

Sie heißt nicht Andrea. Aber ich nenne sie so. Damit es nicht noch schwerer wird für sie.

Andrea ist das, was man eine treue Seele nennt. Das ist sie – so ganz und gar und ohne jede Einschränkung. Davon sollte ihr Mann ein Loblied singen. Und er wüsste ganz genau, warum.

Treu, aufmerksam, fröhlich, engagiert, hilfsbereit, aufopfernd. Menschen, Kinder, Tiere, Blumen liebend. All das ist Andrea. Auch jenseits eigener vier Wände.

Seit über zwei Jahrzehnten arbeitet sie für einen Lebensmittel-Discounter. Hat ganz klein angefangen, um am Ende doch nicht groß heraus zu kommen.

Gut. Sie ist heute Filialleiterin. Auch wenn das bei diesem Discounter nicht so heißt, in keinem Arbeitsvertrag so steht, erst recht nicht so bezahlt wird.

Nein; sie klagt nicht: Die 100 Euro netto im Monat, die sie heute mehr hat, die sind ein schöner Spargroschen. Für den Urlaub: Einmal im Jahr, da wird sie nämlich übermütig und will die Welt zu ihren Füßen haben. Den Sand zwischen den Zehen spüren, den Wind im Haar und eiskalten Rosé auf den Lippen.

Aber sonst ist sie immer da. Für jeden und alles. Vor allem aber für „ihren“ Laden. Die kleine Frau mit dem großen Herzen hat ihn nicht nur an der Backe. Sie hat ihn auch im Griff.

Tunnelt Papierberge. Macht, dass bärbeißige Lieferanten Charmebolzen werden. Wischt die süße Sauerei vom geplatzten Joghurt-Nachtisch weg. Räumt rasend schnell leere Regale voll. Wuchtet dafür schwere Verpackungen durch die Gänge – und lächelt fröhlich die Kunden an. Merkt erst am Abend, auf der Couch, dass sie den Rücken nicht krumm noch gerade machen kann, die Füße müde und die Hände aufgeschunden sind.

Hüpft trotzdem am nächsten Morgen um halb fünf aus dem Bett. Ist die erste vor Ort und die letzte auch. Springt sofort ein, wenn eines ihrer Mädels daheim bleiben muss, weil der Kindergartenkrümel kränkelt. Tröstet, wenn deren Kerle freidrehen. Mal wieder das eh schon knappe Geld in Sixpacks investieren. Oder ganz die Kurve kratzen.

Andrea hat nicht nur einmal ihren Sommertraum-Urlaub verschoben. Oft für andere einen Dienst dazu übernommen, damit die mal einen Wandertag mit ihren Kids machen können und so etwas.

Sie ist selbst dann noch ein Wunder an Geduld und Demut, wenn Schnäppchenjägerinnen zu Furien werden, weil die Angebote schon nach wenigen Stunden aus sind. Dann bekommt ihre Stimme so was narkotisch Mütterliches, bietet sie an, zurückzurufen, alsbald Nachschub kommt. Und den gäbe es ganz bestimmt, weil sie gleich noch einmal bestellen werde. Selbst die stadtbekannt heftigsten Xanthippen fahren die Kampffeder wieder ein und trollen sich.

Sie ist organisiert. Sie organisiert alles. Vergisst keinen Geburtstag und kein gutes Wort außer der Reihe und auf den Weg. Für jeden, der den ihren kreuzt.

Und sollte jetzt doch gehen.

Weil, da kam so ein Mädel. Mehr als 20 Jahre jünger als sie. Ehrgeizig. Stellte sich gut an, war „blickig“, wie Andrea sagen würde. Aber auch falsch. Was sie nicht sah – oder nicht sehen wollte.

Eine Denunziation, ein Meineid später kam der Bezirksleiter, die Abmahnung, die Aufforderung, selbst zu gehen, um nicht gekündigt zu werden.

Es war, so erzählte sie, als ob einer ihr das Herz zusammepressen würde, dass es nicht mehr hat schlagen können. Das fehlende Blut raubte ihr das Lächeln, den sicheren Stand. Zur Besinnung kam sie wieder. Nach einer langen Weile.

Ganz bei Sinnen scheint sie immer noch nicht, obwohl das nun schon fast vier Wochen her ist. Die falsche Freundin ist weg, Andreas‘ Status unangetastet. Wohl auch deshalb will sie niemandes Hilfe haben: Nur nicht auffallen, nur nicht schon wieder Aufmerksamkeit erregen. “Das wird schon wieder“, sagt sie.

Sie steht morgens um halb fünf auf. Fährt die paar Minuten mit dem Rad. Strampelt abends zurück. Tut, als ob alles beim Alten ist.

Aber lächeln… – lächeln habe ich sie seither nicht mehr gesehen.

Übrigens: Die Flasche Mineralwasser, die der Bezirksleiter kommen ließ, als Andrea aus den Latschen kippte, hat man ihr ausnahmsweise nicht vom Lohn abgezogen.

Und: Das war kein Schauermärchen.
Es ist eine wahre Geschichte.
Immer noch ein Albtraum für die Frau, die ich Andrea nenne.
Für die ich meine Hand ins Feuer lege.
Der ich wünsche, sie möge die Kraft finden fürs Aufstehen und sich widersetzen.

Damit sie einen anderen Ort zum Arbeiten fände.
Einen, wo sie so geschätzt wird, wie sie es verdient.

3 Comments

  • Jürgen (#)
    17.06.2015

    Klasse geschrieben. Solche Menschen gibt es viele, unter uns und um uns. Sie sind es, die das Leben immer mal wieder ein kleines Stück heller machen. Nur bemerkt man sie selbst kaum. Aber das Leben wäre ärmer ohne sie.
    Das Gegenteil, die Lauten, helfen meist wenig, profitieren aber trotzdem.
    Es ist nicht immer gerecht. Mehr Mut den Introvertierten!

  • eine andere Stimme (#)
    17.06.2015

    Nicht aufgeben,Andrea!
    (eine biografische Entgegnung)

    Und da ist Steffen,ich nenn ihn jetzt mal so. Sein Name ist beliebig, denn er steht für Millionen andere auch.

    Steffen schlürft mit wachem Blick durch die Regale jener Kaufhalle, in der bis vor kurzem noch die nette Andrea arbeitete. Immer auf der Suche nach den Sonderangebotsschildern. Diesen mit den leuchtenden Farben. Heute die Gurken für 0,39 ,statt 0,59 , das Brot von gestern, das am folgenden Tag immer runtergesetzt ist, ist auch noch nicht alle. Mitnehmen. Vorbei am Fleischregal, das Hack heute für 2,99 das Kilo. Verlockend. Und es ist trotzdem nicht im Tagesbudget drin. Schade, aber Fleisch gibt es nur alle zwei Wochen. Im Vorbeilaufen noch eine Packung Pfefferminztee in den Korb gelegt, denn davon hat Steffen länger was. Immer nur Leitungswasser ist fad. Die Molkereiabteilung bietet heute runtergesetzten Joghurt an, das erkennt er schon weitem. Neonrot ist das Preisschild jetzt. „Wenn ich Zitronensaft reinmache, dann schmeckt er wenigstens. Und gesund ist es auch“,denkt er sich. 1 kleinen Becher nimmt er noch mit.

    Dann schnell zur Kasse,damit er nicht auf Werbemaschen reinfällt, und Appetit bekommt, den er so oft schon unterdrückt. Die Maschen kennt er ganz genau. Neuromarketing, Zielgruppenanalyse, Kommunikationsdesign, für ihn keine Fremdworte. Hat er doch genau das gelernt, als er seine Umschulung damals mit 1 abschloss. Eigentlich müsste das teilnahmslose Abschalten schon Routine für ihn sein, ist es aber nicht. Trotz jahrelanger Arbeitslosigkeit. Anstehen, bezahlen, freundlich aufrunden, weil man nicht als geizig gelten möchte und raus aus der Kaufhalle. Die Sonne blendet, der Sommer wähnt sich zu zeigen, alles ist farbenfroh.

    Auf dem Heimweg muss er über Andrea nachdenken. Diese Filialleiterin, die nun entlassen wurde. Die Gründe kennt er nicht, er weiß nur,das sie jetzt womöglich auch in eine Spirale abwärts gerät. Ob sie die Kraft und den Optimismus hat, wie er zum Anfang auch? Er wünscht es ihr. Aber eigentlich ist ihm auch egal. Er hat andere Sorgen.

    Zu Hause liegen wieder stapelweise Briefe vom Jobcenter. 135 A4-Blätter, 5 Termine. Er hat nachgezählt. Allein vom Jobcenter. Die letzten 8 Wochen. Nachweise ausfüllen, Termine, Bescheide, Weiterbewilligungsantrag,usw. Die nötigen Papiere, Mietvertrag, Kontoauszüge, finanziellen Verhältnisse, muss er noch zusammensuchen, kopieren, Begleitschreiben aufsetzen, und hochbringen. Oft genug,dass Papiere dort einfach verschwanden,und er mit Sanktionen, diesen elenden Kürzungen, belegt wurde. Er nimmt die Fahrtkosten jetzt in Kauf, zwar sind sie teuer für ihn, aber immer noch günstiger als Sanktionen. 3 Euro muss er jedesmal zahlen,nur damit er jetzt immer den Abgabestempel nachweisen kann. Seit seinem Unfall fällt ihm das Laufen schwer, Schmerzen jeden Tag. Trotz starker Schmerztabletten, die er auch noch finanzieren muss. Sonst würde er die 7 km hochlaufen.
    Die Rechnungen, Mahnungen, Gebührenbescheide, Rücklastschriften, muss er auch noch abarbeiten.

    Dazu die Bewerbungen,die noch erledigt werden müssen. Lust hat er darauf keine. Nicht ein bisschen. Nach über 200 eintönigen Absagen, kein Wunder. Die Absagen liest er schon gar nicht mehr. Sie haben immer denselben Wortlaut und beginnen mit dem Wort „Leider…“. Weiter liest er nicht mehr. Und immer wieder: „Viel Glück für Ihren weiteren beruflichen Weg.“ Wie Hohn klingt das für ihn. Wenn sie wenigstens ehrlich wären, und die wahren Gründe mitteilen würde. Er könnte genau an diesen Punkten arbeiten. Oder liegt es doch an seinem Alter?

    Das zerrt am Nervenkostüm. Depressiv ist er deshalb geworden. Er hat kein dickes Fell, er nimmt sich das zu Herzen. Und zweifelt an sich. Über die ganzen Jahre hat er doch nie aufgegeben. „Kämpfen!“,sagt er sich,“Immer weiter kämpfen! Nie aufgeben! Vielleicht lohnt es sich irgendwann ja.“ Aber es fällt ihm schwer, sich dies einzureden. Es hat diesen bitteren Beigeschmack. Und kalt ist es auch.

    Wie alt mag diese Andrea sein? Ist sie auch 40? Er hat keine Zeit darüber nachzudenken. Viel zu tun. Und das als Hartz4 – Empfänger. Ist doch die weitläufige Meinung über diese Aussätzigen eine Andere. Sie sind das gesellschaftliche Lepra. Hat man einst diese Kranken auf eine Insel zum Sterben abgeschoben, werden sie heute „krank“ verwaltet, und als unfähig stigmatisiert. Man sagt es nicht immer, jedenfalls nicht so direkt. Aber behandelt allemal. Mit Arroganz und Überheblichkeit wird er oft konfrontiert. Früher hat er noch noch eloquent darauf reagiert und argumentativ gefochten. hat sich verteidigt, gerechtfertigt. Heute ist ihm egal.

    „Kämpfen!“, da war er wieder. Dieser flüchtige Gedanke, der Hoffnung bringen soll.

    Er bildet sich in Eigeninitiave weiter. Spart sich mühsam das Geld für die Lehrbücher zusammen. So kann er dann sein Lebenslauf „aufskillen“. Sovieles hat er sich schon beigebracht. Er ist ein Autodidakt. Sehr neugierig, kreativ, wissensbegierig. Er fühlt sich im Kopf nicht wie 40. Nein,niemals. Er begehrt immer noch.

    „Nie aufgeben, Andrea!“, dann versinkt er wieder in seine Lehrbücher.

    (Marco)

    • Rainer Aschenbrenner (#)
      17.06.2015

      Danke dafür! „Eine andere Stimme“ erzählt eine andere Geschichte. Und doch ist es die gleiche Sache, um die es geht.
      Es sind am Ende aber wir, wir alle, die den Andreas’ und Steffens dieser Welt die Würde zurückgeben können, weil wir ihnen achtsam begegnen.
      Nochmals danke, Marc Sch.

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