Kleingeisterstunde

Bei mir gibt es niemals „morgens halb zehn in Deutschland Knoppers, das Frühstückchen“. Bei mir gibt es höchstens extrasaustarken Kaffee und die Tageszeitung. Beides zudem wesentlich früher, damit ich „Eule“ dann ab 10 Uhr auch mental tageslichttauglich und ansprechbar bin.

Während die Qualität des Koffeinkonzentrats in eigener Verantwortung liegt (und auch von meinen Gästen meist gerühmt wird!), begebe ich mich bei der Zeitungslektüre in die Hände der Redaktion meines Vertrauens.

Das führt allerdings gelegentlich zu sprunghaften Anstieg des Blutdrucks. Dann, wenn ich es nicht schaffe, die Leser-Seite(n) zu überblättern. Dank ihrer hat der Begriff „Morgengrauen“ bei mir eine neue, bisher nicht für möglich gehaltene Dimension bekommen.

Die schlichten Verse der Leserlyrik sind nur bedingt Ursache fürs blanke Entsetzen. Es ist auch kein Standesdünkel, bezogen auf Leserbriefe im Allgemeinen. Schließlich halte ich mich keinesfalls für ’was Besseres, nur weil ich das Wortdrechseln zum Beruf gemacht habe und deshalb zuvor und ordentlich studierte. Im Gegenteil: Die Meinung anderer war und ist mir enorm wichtig. Auch ein Grund, warum ich öfter durch Gotha streune und – frei nach Luther – „dem Volke aufs Maul schaue“. Ohne allerdings demselben danach zu reden – was einen lupenreinen Populisten auszeichnet.

Mich regen die TA-Leserseiten allem dann auf, wenn Frau X. oder Herr Y. von den „kleinen Leuten“ schreiben und sich damit meinen.

Ob sie eigentlich wissen, was sie da tun? Denn gibt es „kleine Leute“, muss es folglich auch „große“ geben. „Wir da unten und die da oben“ – das hat für mich immer noch den Klang nach verbalem Säbelrasseln und nach Klassenkampf.

Doch solch naive Weltsicht zu haben, heißt auch einzugestehen: Wo ein Knecht, da auch ein Herr. Denn herrschen kann man nur über andere. Über jene, die sich unterwerfen. Untertanen schulden ihrer Obrigkeit Gehorsam. So war das. So scheint das demzufolge immer noch zu sein.

Das ist dann aber auch des Pudels Kern. Unterwürfigkeit drückt sich eben nicht nur in der Körper-, sondern erst recht in der Geisteshaltung der Menschen aus. Da gilt dann: „An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen.”

Dem Wiener Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus wird im Allgemeinen diese Abwandlung des Bibelzitates „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“ (1. Buch Johannes 2,1-6) zugeschrieben. Kraus’ Intention 1938 war dabei, die manipulative Potenz der Sprache des Nationalsozialismus zu offenbaren. Die sich ihrer bedienten, führten oft den „kleinen Mann“ und die „kleine Leute“ im Munde.

Sicher ist aber auch: Diese Phrase von den „kleinen Leuten“ fand lang’ davor Einzug in die Sprache – und nicht nur die deutsche.

Trotzdem war meine Neugier geweckt. Und so stöberte ich nicht nur in Grimms Wörterbuch, sondern auch in antiquarisch erworbenen Bänden der „Zeitschrift für deutsche Wortforschung“. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie herausgegeben. In Band 5 von 1904/05 fanden ich dann zur Herkunft der „kleinen Leute“ weitere spannende Hinweise. So war für den Philosophen Friedrich Nietzsche das Höchstmaß seiner Geringschätzung anderer, sprach er über sie als „kleine Leute“, deren „Geruch von geistiger Not und Enge“ ihm zuwider wäre.

Nietzsche ist seit 112 Jahren tot. Und er starb in Weimar. Das allein erklärt aber nicht, warum Thüringer – und nicht nur sie – es nicht lassen können, sich selbst zu demütigen, sich zu „kleinen Leuten“ machen und letztlich so am Untertanengeist und Obrigkeitsdenken festhalten.

Recht ratlos bin ich daher zum weniger guten Kolumnen-Schluss. Und nicht nur, weil vermutlich noch eine ganze Weile meine Morgenstund’ nicht immer Gold, sondern zuweilen eben auch Kleingeister im Mund hat.

(Kolumne für den „Oscar am Freitag“ vom 25. Mai 2012, Ausgabe Gotha)

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