„Die Bahn kommt …“ – und wie!

Gotha, Hauptbahnhof. Bin viel zu früh da. Habe ja aber auch keine Erfahrung, wie lange ich zu Fuß von der Mönchelsstraße bis hier her brauche. Mit’m Auto wären es keine fünf Minuten. Gelaufen bin ich viermal so lange. Wollte aber auch kein Risiko eingehen, bei meiner ersten Zugfahrt nach 25 Jahren. Es geht nach Berlin.

Zehn Minuten Warten. Genug, um am Zuglaufplan herauszubekommen, wo Wagen 9 hält. Dort wartet Platz 81 am Fenster auf mich. Bis Naumburg fahre ich IC – InterCity. Der Zug kommt pünktlich; ich stehe direkt vorm Einstieg, habe auch nach wenigen Sekunden geschnallt, dass keine Klinke an der Tür ist, sondern so etwas, wie ich von den Milch-Tetrapacks auch kenne – eine Aufreiß-Lasche. Funktioniert sogar! Finde auch meinen Platz. Der ist in Fahrtrichtung rückwärts. Geht gar nicht; da wird mir immer übel. Das war schon früher so. Und ist ganz extrem beim Busfahren. Aber ich hoffe, die Deutsche Bahn überrascht mich positiv.

Neben meinem Platz sitzt eine Mama. Mit zwei Kindern. Einem vielleicht zwei Jahre alten schlafenden Jungen auf dem Schoß. Das bezopfte, vier, fünf Jahre alte Mädel macht nur unwillig Platz, als die Mama sagt: „Lass mal den Mann da hin …“ „Schackliehn“, so heißt der kleine Sonnenschein, steht – ehe ich auch nur einen Pieps sagen kann – aber unverzüglich mit ihren leicht verschlammten Stiefeln auf meinen Oberschenkeln. „Will rausgucken!“ Mama tut so, als ob sie nichts hört. Ich versuche es mit freundlichem Herunterkomplimentieren, was „Schackliehn“ an ihrem kleinen Knackarsch vorbeigeht. Im Gegenteil: Sie nutzt mich jetzt als Steighilfe, um auf die Kopfstütze des Sitzes zu gelangen. Beinahe mit schlechtem Gewissen bitte ich die Mama, ihre kleine Bergziege zu bändigen. Wortlos knallt sie dem Kind eine. Ich stehe auf, biete den Platz an, damit Kind und ich unseren Frieden haben.

Der Waggon ist voll, kein anderer Platz frei. Außer der neben einer extrem fetten Frau. Ich vermeine, ihren Schweiß schon aus zehn Meter Entfernung zu riechen.

Ich ziehe es vor, zu stehen. Im Zwischenbereich zwischen zwei Waggons.

Erfurt. Zehn Minuten später. Sechs, acht russische Wintersportler – erkennbar an der Sprache, den Skiern, Helmen etc. – entern den Waggon, Trolleys mit dem Ausmaß einer IKEA-Anbauwand hinter sich herziehend. In der Wagenmitte stößt der russische Lindwurm auf eine deutsche Verklumpung aus Großmutter und genervten Enkelsohn. Der versucht, behängt mit zwei Reisetaschen, den Rollkoffer der „Omma“ durch den Gang zu manövrieren. Am russischen Wintersport-Gepäck-Bollwerk ist Schluss. Gefühlt fünf Minuten steht man sich stumm und mit anklagendem Blick gegenüber. Dann obsiegt die slawische Gewitztheit. Die Mucki-Burschen wuchten ihre roten Riesentaschen über die Köpfe erschrockener Bahnfahrer, bilden eine Fliegende-Koffer-Kette. Alles wird gut, niemand kommt zu Schaden. Und Omma auf ihren Platz. Nur der Enkel radaut vor sich hin. Der Zug fährt nämlich und er wollte eigentlich nicht mit.

Weimar. Einer der Russen muss dringend rauchen. Also macht er das dort, wo ich stehe. Ich versuche zaghaften Protest. Er feixt nur. „Nix verschdähe.“

Naumburg. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig wartet der ICE aus München. In zwei Stunden soll er uns nach Berlin bringen. Der Zug ist haarscharf vorbei an voll besetzt. Wagen 29, Platz 41. Fenster. In Fahrtrichtung rückwärts. Der Typ auf dem Sitz daneben pennt. Ich versuche, auf meinen Platz zu kommen, ohne ihn zu wecken. Geht natürlich nicht; auch, weil er seinen versifften Rucksack unten stehen hat. Als er etwas Unverständliches murmelt, während er das Gepäck entfernt, trifft mich eine Wolke: Ich kann mir aussuchen, ob mir wegen des Alkohols, des kalten Zigarettenrauchs oder des unglaublichen Mundgeruchs (der dennoch zu riechen ist!) übel wird.

In Bitterfeld gebe ich auf. Ich finde ein paar Meter weiter einen freien Platz. Bis Halle.

Dann flüchte ich eben ins Bordbistro, denke ich. Gute Idee, aber schlechtes Timing. Da sind schon all die anderen, die aus Mangel an Reservierung oder freien Sitzplätzen Standfestigkeit hätten beweisen müssen. Es dauert bis Wittenberge, bis ich meinen Latte habe. Der schmeckt, als ob mich der Typ von vorhin geküsst hätte.

Berlin. Wir sind pünktlich. Ich finde auf Anhieb aus dem Gewirr des Hauptbahnhofs heraus und die Bushaltestelle des „245“ers. Auf dem Streckenplan ist die Bismarckstraße nicht gelistet, obwohl ich im BVB-Fahrplan mit die Route herausgesucht hatte und demnach angeblich der Bus sogar bis vor die Tür meines Zieles hätte fahren sollen. Als die Stadtlinie kommt, steige ich ein. Gehe zum Fahrer und setze zum Fragen an, als der mir schon fröhlich entgegengrunzt: „Ick frache mir, wat die Leute off die Oochen ham?! Da steht doch, det det Frachen währnt die Fahrt nich erlaubt is!?“ Ich glaube, ich werde sogar rot, so ertappt worden zu sein. Die nächste rote Ampel kommt aber: „Fahren Sie durch die Bismarckstraße?“ „Ne, drüba …“ „????“, Na drüber! Am Reuterplatz fahr’ ick drüber.“

Alles klar. Und die fälligen 15 min. Fußmarsch taten gut.

Vier Stunden später habe ich das Privileg, von einem freundlichen Professor chauffiert zu werden – direkt bis zum Hauptbahnhof. Die Wartezeit überbrücke ich dadurch, dass ich die auffällig zahlreichen Polizisten beobachte, wie die beobachten, wie andere Menschen beobachten, wie sie von den Polizisten beobachtet werden – möglichst unauffällig natürlich.

Bevor mein ICE einfährt, der bis nach München rollt, ertönt aus der Lautsprecheranlage eine Stimme. Das klingt, als ob gerade die UFA-Wochenschau die letzte Meldung aus dem Oberkommando der Deutschen Bahn AG verliest. Der schnarrende Lautschepper verheißt Ungutes: Technische Schwierigkeiten hätten dazu geführt, dass nur ein halber ICE kommen werde. Logisch, dass unter den Wagen, die fehlen, auch der ist, in dem ich reserviert hatte. Aber weil der Zug nur einen Halt zuvor hatte, hoffe ich, einen Platz zu ergattern. Den habe ich bis Wittenberge. Dann kommt der Resevierungsinhaber. Ein paar Reihen weiter ist ein Platz leer und drumherum auch noch zwei. Ich denke mir nichts Böses und setze mich neben die scheinbar schlafende, graumausig wirkende ältere Dame, angetan mit einem abgewetzten Mantel und einem, dieser merkwürdigen Strickhutmützendingsbummsdinger auf dem Kopf. Auf ihrem Schoß ein widerlicher kleiner Mops. Nach ein paar Sekunden finde ich sogar den Gedanken an den morgendlichen Suffkopf erträglich. Keine weiteren Details; ich nehme an, der Mops hatte akute Verdauungsprobleme und wohl auch alten Fisch gefressen. So, wie es müffelte. Würgreiz …

Bis Naumburg haben wir aus zehn Minuten Verspätung zwanzig gemacht. Der IC nach Frankfurt/Main aus Leipzig bot noch einmal zehn Minuten mehr. Mein Platz ist frei, der daneben auch. Ich will gerade entspannen, da fliegt die Türe auf und eine johlende Meute 12-, 13-Jähriger stürmt den Wagen. Eine Schulklasse auf dem Weg nach Frankfurt und zum Flieger, wie ich nach ein paar Minuten später weiß. Mit einem stoischen Lehrer, der sich neben mich und unter seine Kopfhörer setzt, um dann bei Spät-Achtziger-Punk sichtlich zu entspannen. Die Schüler proben gerade „Stage diving“ im Zug. Das geht erwartungsgemäß nicht gut, weil unvorbereitete Reisende schreckhaft reagieren, wenn plötzlich Knaben- oder Mädchenkörper auf deren Schoß landen. Die beiden mitreisenden Elternteile haben sich zurückgezogen, die Köpfe zusammengesteckt und diskutieren angeregt, ohne sich vom extremen Lärmpegel ihrer Schützlinge stören zu lassen oder vom anschwellenden Protest der anderen Reisenden.

Der Zugbegleiter naht. Macht auf der Hacke kehrt und verschwindet gleich wieder. Bahner sind kluge Leute. Sie wissen, wann sie keine Chance haben …

Ich ergreife auch meine Schultertasche, die Lederjacke und die Flucht. Zwei Wagen weiter finde ich eine unbesetzte dunkle Ecke.

Kurz vor Erfurt. Es knackt in den Lautsprechern. Doch statt der üblichen Auskunft, wo man eintreffen werde, auf welcher Seite der Ausstieg wäre und welche Anschlüsse man bekommen könne, hört es sich irgendwie gefährlich an. Schweres Atmen, Japsen. Ich mache mir Sorgen, bis aus dem Atmen ein Keuchen und ein „Ja, jaa, jaaaa“ wird. Es stimmt also: „Die Bahn kommt …“

Die Ansage kommt ein wenig später. Die beglückte Zugbegleiterin sehe ich erst, als ich in Gotha den Zug verlasse.

Mein Gott! Andere Menschen fliegen tausende Kilometer, um Abenteuer zu erleben.

Muss man nicht. Man muss nur Bahn fahren.

Wirklich.

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